Schiffe versenken oder Quotenregelung? Reaktionen auf die Bootsflüchtlinge im Mittelmeer
Wie soll man mit den Flüchtlingen umgehen, die den gefährlichen Weg nach Europa über das Mittelmeer wählen? Die meisten von ihnen sehen in der illegalen Überfahrt die letzte Möglichkeit, der Gewalt, dem Krieg, der Verfolgung oder der Armut in ihren Heimatländern zu entkommen. Dazu begeben sie sich in die Hände von Fluchthelfern, die sie auf kaum seetüchtige und überfüllte Boote verfrachten. Die Flüchtlinge werden dann meistens sich selbst überlassen und in vielen Fällen nur mit einem Satellitentelefon ausgestattet, mit dem sie im Notfall um Hilfe rufen können. Nach den schrecklichen Ereignissen der letzten Wochen, deutlich mehr als tausend Flüchtlinge waren bei der Überfahrt über das Mittelmeer ums Leben gekommen, und der damit zusammenhängenden öffentlichen Empörung sah sich die Europäische Union zu einer Reaktion genötigt. Neben einer Ausweitung der Frontex-geführten „Triton“-Operation, der besseren Vernetzung bereits bestehender EU-Institutionen und dem Plan, die Rückführung illegaler Migranten zu beschleunigen, konzentriert sich die EU vor allem auf die Bekämpfung der sogenannten „Schlepper“- oder „Schleuserbanden“, die insbesondere im bürgerkriegsgeplagten Libyen aktiv sind. Deren Strukturen sollen zerschlagen werden. Dazu sollen die Schlepperboote aus dem Verkehr gezogen werden, bevor sie Menschen an Bord nehmen und die Überfahrt antreten können. Auch weitere militärische Operationen – zu Wasser, zu Luft, zu Land – gegen die Schlepper bzw. deren Infrastruktur wurden angedacht. All dies erfordert ein robustes Mandat. Die Konzentration auf die Schlepper und die Idee, deren Boote zu versenken, wurde sehr kontrovers aufgenommen.
Dass Schiffe vernichtet werden, nachdem Flüchtlinge von ihnen gerettet werden, sei eine durchaus gängige Praxis, wie Thomas Wiegold auf Augen geradeaus! feststellt. Das hätte praktische Gründe, da die zumeist seeuntüchtigen Boote unter keiner Flagge fahren und die Schifffahrt behindern bzw. gefährden würden. Doch die Zerstörung von potentiellen Schleuserbooten bevor sie überhaupt in See stechen, werfe andere Fragen auf, so Wiegold: Ist das überhaupt legal? Wie stellt man zweifelsfrei fest, ob ein Boot wirklich zur Beförderung von Flüchtlingen genutzt werden soll? Das militärische Vorgehen gegen die Schleuserbanden wurde zu Wochenbeginn von der EU beschlossen, doch die meisten Details – beispielsweise zur rechtlichen Ausgestaltung der Militäraktion und zur Kooperation mit Libyen und anderen Staaten der Region – seien noch offen, wie Wiegold in einem anderen Beitrag feststellt.
Auch Leo Brux hat auf dem Migrationsblog der Initiativgruppe e.V. zunächst einmal viele Fragen hinsichtlich der geplanten militärischen Aktionen in Libyen bzw. vor dessen Küste. Bedürfte es eines UN-Mandates und wie wahrscheinlich wäre dessen Zustandekommen? Wie identifiziert man die Boote richtig und wie gewährleistet man, dass sich bei deren Zerstörung niemand an Bord befindet? Wie reagiert man auf die zu erwartenden Ausweichbewegungen der Schleuser? Was geschieht mit den gestrandeten Flüchtlingen? Wahrscheinlich ließe sich das alles noch irgendwie lösen, doch die Ursachen für die Flüchtlingsbewegung würden durch eine immer weitere Abschottung der EU nicht angegangen. Irgendwie sei das alles ja schon paradox, so Brux: Die EU propagiere die liberal-kapitalistische Öffnung des globalen (Arbeits-)Marktes und die freie Beweglichkeit von Waren und Dienstleistungen, errichte aber gleichzeitig Barrieren.
Jascha Jaworski ist auf Maskenfall ebenfalls einigermaßen desillusioniert beim Blick auf den vorgelegten Handlungsplan der EU-Kommission. Es werde nur darauf hingewirkt, die Flucht der Menschen zu unterbinden, nicht die Ursachen dafür zu bekämpfen. Es ginge lediglich darum, die Menschen von Europa fernzuhalten. Der humanitäre Anspruch des EU-Plans sei ein bloßer Vorwand. Das Ziel sei es, die Reichen vor den Armen dieser Welt zu schützen. Die EU – in ihrer momentanen Form – offenbare sich als ein rein neoliberales, militaristisches und undemokratisches Gebilde, so wie die Partei Die Linke dies einmal formuliert hatte.
Joshua Keating ist auf dem Slate-Blog The Slatest angesichts der vorrangig auf das Militärische setzenden europäischen Reaktion auf die Flüchtlingsproblematik ebenfalls skeptisch. Er merkt aber auch an, dass der oft formulierte Vorwurf, dass die EU damit nicht die eigentlichen Problemursachen in Angriff nehme, zwar nachvollziehbar aber nicht besonders hilfreich sei. Ein Plan, der die ganz unterschiedlichen Probleme und Herausforderungen, die der Flüchtlingsthematik zugrunde liegen, angehe, sei wohl einfach nicht machbar. Schon alleine die Zerschlagung der Infrastruktur der Menschenschmuggler in Libyen sei im Grunde kaum effektiv umsetzbar – vor allem wenn man die dortigen chaotischen Zustände in Betracht zöge. Ohne ein Mindestmaß an Ordnung in Libyen sei eine Lösung der Krise nicht in Sicht, so Keating.
Wie könnte die EU ansonsten mit den Menschen verfahren, die über das Mittelmeer die Flucht antreten? In den letzten Tagen wurde eine Quotenregelung bzw. ein Verteilerschlüssel für diese Flüchtlinge ins Gespräch gebracht. Die in Europas Süden anlandenden Menschen sollen demnach über die ganze EU verteilt werden und nicht dort verbleiben müssen, wo sie zuerst den Schengen-Raum betreten haben, so wie die Dublin-Regelung das vorsieht.
Anna Lübbe hält das Dublin-System für gescheitert. Auf dem Verfassungsblog schreibt sie, die Dublin-Regelung missachte verschiedene menschenrechtliche Prinzipien, wie das Mindeststandardprinzip, das Erreichbarkeitsprinzip, das Verbindungsprinzip, das Effizienzprinzip und das Lastenteilungsprinzip. Die europäische Abgrenzungs- und Abwehrpolitik habe die Situation für die Flüchtlinge verschlimmert und sei gemessen am Gebot der Humanität nicht länger tragbar. Ein Umbau des europäischen Asylsystems müsse nun eingeleitet werden, Schritt für Schritt, weg von der Abschottung, hin zu mehr Humanität, Effizienz und Solidarität im gesamteuropäischen Umgang mit den Migrationsbewegungen. Eine europäische Lastenteilung müsse her, die alle solidarisch mittragen.
Doch gerade an Solidarität scheint es zu mangeln, wie man an den äußerst skeptischen Reaktionen Großbritanniens, Frankreichs oder einiger osteuropäischer Staaten auf die vorgeschlagene europäische Quotenregelung ablesen kann. Durch ein verstärktes militärisches Vorgehen lassen sich die Flüchtlingsbewegungen wohl temporär eindämmen, aber nicht auf Dauer verhindern. Den Menschen die hier (trotz allem) ankommen, muss zudem geholfen werden, eigentlich auch denjenigen, die dort wegwollen. Die EU ist gefordert Lösungen zu suchen, zumindest dann, wenn sie mehr als ein bloß zweckrationaler Wirtschaftsverbund sein will – Stichwort: Friedensnobelpreis.