Ein Land zerbricht: Ukrainische Verwerfungslinien

Die Ukraine droht auseinanderzubrechen. Viele Verwerfungslinien wurden in den letzten Wochen und Monaten sichtbar: Zunächst in Gestalt der Auseinandersetzungen auf dem Kiewer Maidan-Platz zwischen Gegnern und Befürwortern des später abgesetzten ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch. Aber auch innerhalb der beiden sich gegenüberstehenden Lager gab es von Beginn an schwerwiegende Spaltungen und Widersprüche. Dann auf der Krim-Halbinsel: Eine Mehrheit der dortigen Bevölkerung sprach sich in einem (umstrittenen) Referendum für eine Abspaltung von der Ukraine aus und wurde daran anschließend in die Russische Föderation eingegliedert. In der Ostukraine riefen unlängst separatistische Kräfte eine „Volksrepublik Donezk“ aus, für den 11. Mai ist eine Abstimmung über eine Abspaltung von der Ukraine geplant. Die neue ukrainische Regierung reagierte auf die separatistischen Bestrebungen in der Ostukraine mit einem militärisch geführten Anti-Terror-Einsatz. Auch im Süden der Ukraine, in Odessa, kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern der neuen ukrainischen Regierung bei denen viele Menschen ums Leben kamen.

Ist die Spaltung bzw. das Auseinanderbrechen der Ukraine noch aufzuhalten und wie sollte sich der Westen und Europa in dieser verworrenen Situation gegenüber den verschiedenen beteiligten Konfliktparteien verhalten?

In einem Beitrag auf Telepolis kritisiert Ulrich Heyden das Desinteresse des Westens und Europas an der Aufklärung der Inbrandsetzung eines von pro-russischen Demonstranten besetzten Gewerkschaftshauses in Odessa. Der Brand forderte mehr als vierzig Todesopfer. Obgleich es deutliche Hinweise darauf gebe, dass rechte bzw. rechtsextremistische ukrainische Kräfte – etwa des Rechten Sektors – die Gewalteskalation herbeigeführt hätten, hielten sich sowohl westliche Politiker als auch weite Teile der Presse äußerst bedeckt. Anstatt kritische Fragen zum Ablauf und zu den Hintergründen der schrecklichen Geschehnisse zu stellen, Ungereimtheiten anzusprechen oder die Rolle der Kiewer Regierung in diesem Zusammenhang zu hinterfragen, gebe man sich weitestgehend indifferent. Dass die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton zwar inzwischen ihr Bedauern angesichts der Todesopfer ausgedrückt und eine unabhängige Aufklärung der Ereignisse eingefordert hat, dabei aber in keiner Weise Kritik an der ukrainischen Regierung äußerte, lässt Eric Bonse auf Lost in EUrope ratlos zurück.

Auch kielspratineurope fordert ein wesentlich engagierteres Vorgehen der USA und der EU, in diesem Falle aber gegenüber Russland. Es könne ja nicht angehen, dass Wladimir Putin agiere und provoziere, wie es im gerade gefalle, und das, wo man sich gerade auf der Schwelle zu einem ukrainischen Bürgerkrieg befinde. Putin seine Grenzen aufzuzeigen und eine kraftvolle – agierende, nicht bloß reagierende – europäische Außenpolitik voranzutreiben, das sei das Gebot der Stunde.

Moderater äußert sich Anatol Lieven auf dem Blog der New York Review of Books. Von zentraler Bedeutung sei es, die Einheit der Ukraine aufrechtzuerhalten und dies ginge nur im möglichst geregelten, diplomatischen Zusammenspiel aller am Konflikt beteiligten Parteien. Eigentlich wüssten doch alle Akteure, dass es nur eine gangbare Lösung für die Ukraine geben könne: eine föderale Neuorganisation des Landes, mit starken Regionalregierungen. Nur so könne man dem komplexen Konglomerat gerecht werden, das die Ukraine seit ihrer Gründung darstelle: Sie beinhalte so viele verschiedene Identitäten, Facetten und potentielle Verwerfungslinien, dass ein unilaterales Regieren einer einzigen Fraktion fast zwangsläufig zum Auseinanderbrechen des fragilen Gesamtgebildes führen müsse. Zwar lasse sich nur mit viel Geduld und Verhandlungsgeschick eine föderale Lösung für die Ukraine herbeiführen, doch dies sei allemal besser, als in einen – eben vermeidbaren – Krieg hineinzuschlittern.

Eskalationslogiken und mögliche Auswege aus diesen haben uns hier schon des Öfteren beschäftigt. Ist mehr Härte gegenüber Russland sinnvoll oder der betont besonnene, vermittelnde Weg? Wie sollte man sich gegenüber der ukrainischen Regierung verhalten, gerade wenn sie auf Mittel zurückgreift, die die westlichen Partner eigentlich ablehnen (bzw. ablehnen müssten)? Darf man dann schweigen, sollte man das ansprechen und wenn ja: wie?