Der Kampf um Kobane: ein Schlüsselmoment für die „Neue Türkei“?

Die Lage in der nordsyrischen Stadt Kobane (oder auch Kobani) spitzt sich immer weiter zu. Die Milizen des sogenannten „Islamischen Staats“ (IS) versuchen die hauptsächlich von Kurden bewohnte Stadt an der Grenze zur Türkei gewaltsam einzunehmen. Die Kräfte der kurdischen „Volksverteidigungseinheiten“ (kurz: YPG), die sich gegen den Angriff stemmen, scheinen zu schwinden. In der Nähe von Kobane sollen IS-Kämpfer mehrere Kurden enthauptet haben. Die Türkei, die sich im Kampf gegen den IS bisher merklich zurückgehalten und sich auch nicht der US-geführten arabischen Koalition gegen den IS angeschlossen hatte, vollzog letzte Woche einen für viele überraschenden Kurswechsel. Sie will sich nun doch aktiv am Kampf gegen den IS beteiligen. Zuvor war der Türkei von verschiedenen Seiten eine indirekte oder auch direkte Unterstützung des IS unterstellt worden. Die Gegnerschaft zum missliebigen syrischen Präsidenten Baschar al-Assad habe die Türkei auch die Unterstützung radikalerer syrischer Oppositionsgruppierungen in Kauf nehmen lassen, so wurde argumentiert. Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu versicherte nun, dass man Kobanes Fall verhindern wolle und sicherte im Zuge dessen den Kurden Hilfe zu. Bisher folgten den Worten aber keine Taten.

Laut Florian Rötzer schaue die Türkei dem Kampf um Kobane derzeit nur zu. Und mehr noch: sie hindere Menschen, die bei der Verteidigung Kobanes helfen wollten, daran, die Grenze von der Türkei nach Syrien zu überschreiten. Es werde gemutmaßt, so Rötzer auf Telepolis, dass die Türkei abwarten wolle, bis die IS-Milizen die PKK-nahen kurdischen „Volksverteidigungseinheiten“ vertrieben hätten, um erst dann eine türkisch kontrollierte Schutzzone zwischen Syrien und der Türkei einzurichten. So schlüge man zwei Fliegen mit einer Klappe.

Laut Bill Park drängt sich der Verdacht auf, dass die Bekämpfung des IS höchstens an dritter Stelle der derzeitigen türkischen Prioritätenliste steht. Wichtiger sei der Sturz Assads und die Durchkreuzung der kurdischen Autonomiebestrebungen, so Park auf openDemocracy. Doch dieser türkischen Prioritätensetzung folgen die westlichen Verbündeten nicht. Die Türkei, die doch eine so wichtige Rolle in der Region spielen könnte, laufe Gefahr sich zwischen alle Stühle zu setzen und zum universalen Nicht-Verbündeten zu werden. Das Schlimme sei dabei, dass die Türkei dies noch nicht einmal bemerke.

Frank Nordhausen ist sich auf Gruß vom Bosporus sicher, dass der Ausgang des Kampfes um Kobane ein Schlüsselmoment für die weiteren türkisch-kurdischen Beziehungen darstellen wird. Wenn Kobane aufgrund der türkischen Untätigkeit an die IS-Milizen falle, könnte der in den letzten Jahren so mühsam erarbeitete Friedensprozess zwischen der Türkei und der PKK schlagartig beendet sein. Nordhausen versteht nicht, warum die Türkei jetzt nicht die sich bietende Gelegenheit nutze, um den Kurden die Hand zu reichen, Hilfe anzubieten, eine Versöhnung anzustreben und damit die innertürkischen Konflikte mit den Kurden zu befrieden.

Auch Claire Sadar ruft auf Atatürk’s Republic die Türkei dazu auf, den (syrischen) Kurden echte Hilfe anzubieten. Die Türkei solle ihre übersteigerten Ängste vor einer kurdischen Autonomie in Syrien ablegen. Von oberster Dringlichkeit müsste es für die Türkei jetzt sein, die sich herausbildenden proto-staatlichen Strukturen des IS zu zerschlagen. Zwar sei es nicht ratsam den Kurden Waffen zu liefern, dafür solle man ihnen aber dringend benötigte nicht-militärische Güter zukommen lassen. Außerdem sollte kurdischen Freiwilligen, die den IS bekämpfen wollen, der Grenzübertritt von und nach Syrien und in den Irak erlaubt werden. Nur wenn man die Kurden unterstütze, könne die weitere Ausdehnung des IS aufgehalten und der für die türkische Gesellschaft so wichtige Waffenstillstand mit der PKK aufrechterhalten werden.

Schon seit geraumer Zeit sucht die Türkei ihren Platz auf der weltpolitischen Bühne. Was will sie sein bzw. werden? Am weiteren Umgang mit dem IS und der Situation in Syrien und im Irak wird man vielleicht ablesen können, was sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan unter der von ihm unlängst propagierten „Neuen Türkei“ vorstellt.