…und alle Fragen offen. Der schwierige Umgang mit dem Phänomen “Islamischer Staat”
Die dschihadistische Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) gibt vielen Beobachtern Rätsel auf. Wie ist der anhaltende militärische und politische Erfolg der radikal-sunnitischen Gruppierung zu erklären? Trotz einiger militärischer Rückschläge im Zuge der US-geführten Luftschläge, sind die IS-Truppen nicht auf dem Rückzug und bauen in den von ihnen beherrschten Gebieten staatsähnliche Strukturen auf bzw. aus. Wieso erhält der IS immer weiteren Zulauf, trotz der offen zur Schau gestellten Brutalität? Aus vielen Ländern machen sich Menschen auf den Weg, um den IS in seinem Kampf zu unterstützen. Was kann man dagegen tun? Und wie kann man der über die sozialen Netzwerke verbreiteten Propaganda entgegenwirken? Und vielleicht am wichtigsten und zugleich schwierigsten: Wie lässt sich der IS effektiv bekämpfen? Sind Luftschläge geeignet, um den IS zu zerschlagen oder bedarf es anderer Mittel?
Am Mittwoch dieser Woche trafen sich in Brüssel ranghohe Vertreter der internationalen Anti-IS-Koalition, der rund 60 Staaten angehören, um über diese und andere Fragen zu beraten und das weitere gemeinsame Vorgehen zu koordinieren. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier stellte während des Treffens fest, dass man sich auf einen lange währenden Kampf gegen den IS einstellen müsse.
Dass es keine schnelle Lösung in der Auseinandersetzung mit dem IS geben kann, dem stimmt auch Graham E. Fuller auf LobeLog zu. Im Gegensatz zu den in Brüssel versammelten Diplomaten und Politikern hält er jedoch wenig von einer militärischen Herangehensweise an den Konflikt. Dem Phänomen, das hinter dem Mobilisierungspotential des IS stehe, lasse sich nicht mit Waffengewalt begegnen, so Fuller. In seinem Beitrag ordnet er den „Islamischen Staat“ zunächst einmal in die lange Reihe islamistischer Terror- bzw. Widerstandsgruppen ein, die sich als radikale Reaktion auf den jahrzehnte- wenn nicht jahrhundertelangen westlichen Imperialismus und Interventionismus herausgebildet haben. Was den IS aber etwa von al-Qaida unterscheide, so Fuller, sei dessen Anspruch auf ein Kalifat. Auch wenn die Wiederbelebung der Idee eines großen, grenzübergreifenden Kalifats von den meisten Muslimen skeptisch beäugt werde, docke der IS doch auf einer tiefliegenden Ebene an die Sehnsüchte vieler Muslime nach einer (wieder-) vereinigten muslimischen Welt an, die der Dominanz des Westens etwas entgegenstellen könnte. Mit dieser Idee locke der IS genügend Menschen – auch aus dem Westen – an, um seinen Kampf fortführen zu können. Dieser Mobilisierung der Enttäuschten und Frustrierten wirke man durch militärische Einsätze jedenfalls nicht entgegen, so Fuller. Ganz im Gegenteil.
Auch Ahmed Rashid findet, dass man dem IS nur dann etwas entgegensetzen könne, wenn man dessen Antrieb verstehe. Auf dem Blog des New York Review of Books stellt Rashid fest, dass der IS, ganz im Gegensatz etwa zu al-Qaida, nicht primär gegen den Westen kämpfe. Vielmehr handle es sich vorrangig um einen Krieg innerhalb des Islams. Der IS kämpfe gegen die Schiiten und die gemäßigten, pluralistisch orientierten Muslime. Gemäß der vom IS verfolgten salafistischen Ideologie werde ein puritanischer Islam nach dem Vorbild des siebten Jahrhunderts und die Gründung eines politisch und religiös vereinheitlichten Nahen Ostens in Form eines Kalifats angestrebt – mit all den brutalen Konsequenzen, die das für die anderen mit sich bringt. Wenn man akzeptiere, dass der IS einen Krieg innerhalb des Islams vorantreibe, dann müssten im Kampf gegen den IS auch ganz andere Akzente gesetzt werden als bisher, so Rashid. So sei es kontraproduktiv, dass die USA die Anti-IS-Koalition anführe. Das sollten vielmehr diejenigen arabischen Staaten tun, gegen die sich der Terror des IS richtet. Die USA sollten mit diplomatischen Mitteln dafür sorgen, dass sich die zur Führung der Koalition geeigneten Staaten – Rashid nennt Jordanien, Saudi Arabien und die Türkei – nicht selbst oder gegenseitig im Wege stehen, sondern diese Rolle annehmen. Nur dann könne der IS wirksam bekämpft werden.
Wie passt da das jetzt bekannt gewordene militärische Vorgehen des Iran gegen den IS ins Bild? Laut Pentagon haben iranische Kampfjets IS-Stellungen auf irakischem Territorium bombardiert, allerdings ohne die USA vorher informiert zu haben. Die Beziehungen zwischen den USA und dem Iran sind seit 1979 traditionell schlecht – man bezeichnete sich in der jüngeren Vergangenheit gegenseitig als „Schurkenstaat“ bzw. „großen Satan“.
Dennoch sei es nur schwer vorstellbar, so Florian Rötzer auf Telepolis, dass die USA nicht über die iranischen Luftschläge Bescheid gewusst hätten. Rötzer schätzt, dass die USA diese auch zumindest dulden würden. Offen zugeben könne man eine wie auch immer geartete militärische Kooperation oder Koordination im Zuge des Kampfs gegen den IS jedenfalls nicht.
Dass es eine solche gab bzw. gibt, davon ist Juan Cole überzeugt. Auf Informed Comment schreibt er, dass die USA schließlich den irakischen Luftraum kontrollieren und nach feindlichen Flugzeugen Ausschau halten würden. Im Irak hätten die USA und der Iran einen gemeinsamen Feind und ehe sie sich versähen, fänden sie sich plötzlich auf derselben Seite wieder.
Zugeben will dies freilich auch der Iran nicht, wie Joshua Keating auf dem Slate The World-Blog feststellt. Der Iran bestreitet vorsorglich gleich ganz, dass die Luftschläge (so) stattgefunden hätten. Mit den USA werde man unter keinen Umständen militärisch kooperieren, ließ ein iranischer Offizieller verlauten. Nichts Genaues weiß man also nicht und die ganzen komplizierten diplomatischen Verrenkungen und Verschränkungen – diese bestimmte Unbestimmtheit – findet wohl nicht nur Keating einigermaßen kurios.