Ein europäisches 9/11? Deutungskämpfe um den Anschlag auf „Charlie Hebdo“
Die Schüsse waren kaum verklungen, die beiden radikal-islamistischen „Charlie Hebdo“-Attentäter und der Geiselnehmer in dem koscheren Supermarkt von französischen Sicherheitskräften getötet, da versuchten sich viele sogleich an einer Einordnung bzw. Erklärung der schrecklichen Geschehnisse. Was war der Hintergrund der Taten? Was beabsichtigen die Attentäter? Was waren ihre Ziele? Welche Reaktion wollten sie provozieren? Handelt es sich um ein europäisches 9/11? Wie kann und soll man auf die terroristische Herausforderung reagieren? Inwiefern trägt auch der Westen eine Mitschuld an den Geschehnissen?
Eine häufig zu findende Interpretation des Pariser Attentats lautet, dass es nicht nur gegen „Charlie Hebdo“, sondern gegen uns alle, die wir im Westen bzw. Europa leben, gerichtet sei. Dem schließt sich Klaus Kelle an und stellt auf seinem Blog Denken erwünscht weiter fest, dass die islamistischen Terroristen uns den Krieg erklärt hätten. Alles was uns lieb, wertvoll und schützenswert sei, unsere Kultur und Lebenseinstellung, unser Glaube, unsere freiheitlich-demokratischen Werte, würde von ihnen verachtet. Nun zeige sich, dass der internationale islamistische Terrorismus, der ja bei Weitem kein neues Phänomen ist, uns wirklich alle betreffe und angehe und nicht lediglich die USA, die nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 einen globalen „Krieg gegen den Terror“ initiiert hatten. Wir alle, die wir angegriffen worden seien, müssten nun zusammenstehen und ein entschlossenes Zeichen gegen den islamistischen Terror setzen.
Stefan Sasse ist auf deliberation daily anderer Meinung. Nicht wir oder unsere Werte seien zuvorderst das Ziel des Anschlags auf „Charlie Hebdo“ gewesen. Vielmehr hätten die Terroristen mit ihren Taten versucht, eine extreme Polarisierung der Gesellschaft herbeizuführen, um so eine Überreaktion des Westens gegen den Islam(ismus) zu provozieren, die sie dann in der Folge propagandistisch für sich nutzen könnten, um neue Mitglieder für ihre Sache zu rekrutieren. Denn das oberste Ziel einer terroristischen Organisation sei ihr Selbsterhalt, so Sasse. Diese fatale Logik könne man unter anderem in Afghanistan, Pakistan oder im Irak beobachten.
Das sieht Juan Cole auf informed Comment ganz ähnlich. Die Versuche von al-Qadia, die französischen Muslime, die Cole als die wohl am stärksten säkulare muslimische Bevölkerungsgruppe der Welt bezeichnet, mental zu kolonialisieren, sei in der Vergangenheit immer wieder ins Leere gelaufen. Wenn man nun aber die nicht-muslimischen Franzosen gegen den muslimischen Bevölkerungsteil aufhetzen könnte, ließe sich eine einigende politische Abgrenzungsidentität begründen. Die europäische Gesellschaft sollte durch das Attentat zu anti-muslimischen Pogromen provoziert werden, so Cole, um genau dies zu erreichen und damit al-Qaida Wasser auf die Mühlen zu führen. Das einzig Richtige sei es nun, so Cole – und ähnlich auch Sasse –, an den eigenen liberalen Werten festzuhalten und einer Polarisierung und Spaltung entgegenzuwirken. Denn ansonsten wäre man auf die Terroristen hereingefallen.
Graham E. Fuller ist daran gelegen, die Hintergründe des Attentats zu beleuchten. Auch wenn er die grausamen Taten in keiner Weise legitimieren oder rechtfertigen will, so gebe es doch politische Faktoren und Entwicklungen, die diese (und andere) begünstigt bzw. mit herbeigeführt hätten – und der Westen spiele dabei eine nicht unbedeutende Rolle. Fuller nennt die US-geführten Irak-Invasionen, den Abu-Ghraib-Folterskandal oder auch die unrühmliche Rolle Frankreichs im Algerienkrieg, die für tiefe Zerwürfnisse zwischen dem Westen und der islamischen Welt geführt hätten. Fuller geht es aber um noch etwas anderes: Woran es vielen im Westen mangele, sei eine interkulturelle Sensitivität und ethische Verantwortlichkeit. So wie für den Westen das Recht auf freie Meinungsäußerung das höchste Gut darstelle, das nicht angegriffen oder eingeschränkt werden dürfe, so sei für viele Muslime der Islam unantastbar. Wer den Islam angreife oder herabwürdige, etwa mit scharfen Karikaturen, der greife das Selbstbild und die Normen und Werte einer ganzen Kultur an, die sich im bzw. vom Westen ohnehin schon ausgegrenzt und unterdrückt fühle.
Anas Abbas spricht sich auf Left Foot Forward entschieden gegen solche und andere Versuche aus, die Karikaturisten von „Charlie Hebdo“ oder die westliche Politik irgendwie mit haftbar für das Attentat zu machen. Wenn alleine Demütigungen und Gräueltaten in der Vergangenheit für solch eine Tat verantwortlich seien, wie könnte es dann etwa sein, dass Japan und Südkorea heute die engsten Verbündeten der USA seien. Am jämmerlichsten findet Abbas den oft zu hörenden Vorwurf, die getöteten Karikaturisten von „Charlie Hebdo“ trügen eine Mitschuld, da sie die Muslime provoziert hätten. Dies sei nämlich zugleich ein Schlag ins Gesicht all jener liberalen Muslime, die sich in verschiedenen Ländern tagtäglich gegen eine radikale Lesart des Islams einsetzen und diese offen kritisieren würden. Sie wären dann ja selbst daran Schuld, wenn sie bedroht, verfolgt oder verletzt würden.
Nicht der Westen sei schuld an den terroristischen Morden in Paris, sondern alleine die völlig intolerante Ideologie eines radikalen Islam. Der Westen dürfe nun nicht einknicken und sich ein Bilder- und Kritikverbot auferlegen (lassen), so Abbas.
Aber wie soll man auf die neuerliche terroristische Herausforderung politisch reagieren? Terroristische Anschläge ließen sich wohl nie ganz und gar verhindern, so Johnny Haeusler auf SPREEBLICK. Jedoch könne das Risiko, dass diese zustande kommen, möglichst klein gehalten werden. Dies gelinge aber nur, wenn man die Werte der Demokratie und der Freiheit nicht nur nach „Innen“ lebe, sondern auch nach „Außen“ anwende – im Umgang mit denjenigen, die sich gegen den Westen stellen. Nur dann bleibe das eigene Agieren nachvollziehbar und glaubhaft. Gerade in dieser Hinsicht hätte der Westen aber in der jüngeren Vergangenheit des Öfteren gehörig versagt – Haeusler nennt Guantanamo, Abu-Ghraib oder Bagram als Beispiele.
Keine gute Antwort auf die Anschläge sei es zudem, die demokratischen Grundrechte der Menschen weiter einzuschränken, wie dies bereits nach den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 geschehen ist und wie dies auch jetzt wieder auf die Tagesordnung gesetzt wurde.
Das findet auch Jillian York, die auf informed Comment mit Besorgnis die Äußerungen von verschiedenen Politikern registriert, die sich angesichts des Anschlags auf „Charlie Hebdo“ prompt für noch mehr und härtere Überwachungs- und Anti-Terror-Maßnahmen aussprachen. Die Vorratsdatenspeicherung und Massenüberwachung solle ausgeweitet und der Schutz der Privatsphäre immer weiter aufgeweicht werden. Was damit zugleich aber gefährdet sei, so York, sei die freie Meinungsäußerung, die doch eigentlich nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ verteidigt werden sollte. Wenn man wisse, dass man überwacht werde (oder zumindest jederzeit überwacht werden könnte), hielte man so manches Wort zurück und ließe Dinge ungesagt. Und das dürften wir nicht zulassen.
Die Kämpfe um die Deutungshoheit über die schrecklichen Ereignisse in Paris sind voll entbrannt. Ebenso die Vereinnahmungsversuche durch ganz verschiedene Seiten. Wer das „Je suis Charlie“ für sich reklamieren kann und wer nicht, ist höchst umstritten – siehe etwa die PEGIDA-Aktivisten in Dresden –, genauso wie das, wofür der Ausspruch eigentlich steht. Vorsicht ist in jedem Falle geboten, damit der Kampf für Meinungsfreiheit und Toleranz nicht ganz unversehens zu ganz unerwarteten oder sogar gegenteiligen Resultaten führt.