Wer ist für die Flüchtlinge im Mittelmeer verantwortlich?
Wie viele Tote? Noch nicht einmal genaue Zahlen sind bekannt. Als sicher gilt, dass mehr als tausend Menschen in den letzten Tagen im Mittelmeer ertrunken sind. Menschen die auf der Flucht waren vor Verfolgung, Elend, Armut oder Perspektivlosigkeit. Die Motive können ganz unterschiedliche sein, doch alle Flüchtlinge – ob nun aus Somalia, Nigeria, Eritrea oder Syrien – eint die Verzweiflung. Diese treibt sie auf unsichere, kaum seetüchtige Boote, die, etwa von Libyen aus, nach Europa überzusetzen versuchen. Die Boote sind meist heillos überfüllt, die Schleuser kümmern sich offenbar weniger um die Sicherheit der Flüchtlinge als vielmehr darum, möglichst hohe Einnahmen mit ihnen zu erzielen. Eine Überfahrt ist nicht nur höchst unsicher sondern auch kostspielig. Viele müssen lange dafür arbeiten, manche werden von ihren Familien oder Dörfern finanziell unterstützt. Für fast alle bleibt nur der illegale Weg über das Mittelmeer, die meisten anderen Zuwanderungswege nach Europa sind verstellt. Die Europäische Union – vor drei Jahren mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet – hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten abgeschottet, die Rede von der „Festung Europa“ fällt in diesem Zusammenhang häufig. Die europäische Grenzschutzagentur „Frontex“ sichert die EU-Grenze im Mittelmeer ab. Italien, das Land an dessen Küste die meisten Bootsflüchtlinge anlanden und das diesen gemäß der Dublin II-Regeln ein Asylverfahren ermöglichen muss, hatte 2013 das Seenotrettungsprogramm „Mare Nostrum“ initiiert, nachdem kurz zuvor bei Lampedusa hunderte Flüchtlinge ums Leben gekommen waren. Italien stellte das Rettungsprogramm aber nach einem Jahr wieder ein, da es sich von den anderen europäischen Ländern nicht ausreichend unterstützt sah. Die maßgeblich von „Frontex“ betriebene EU-Nachfolgeoperation „Triton“ hat nicht mehr die Seenotrettung zum Ziel, sondern widmet sich der erweiterten Absicherung der EU-Grenzen. Hieran wurde in Anbetracht der vielen Ertrunken in den letzten Tagen viel Kritik laut. Sogar so laut, dass heute ein EU-Sondergipfel zur europäischen Flüchtlingsproblematik stattfindet.
Nora Markard findet die Kritik an „Triton“ und die Forderung nach einem wirklichen Seenotrettungssystem für die Bootsflüchtlinge richtig. Auf dem Verfassungsblog schreibt sie, bei der Seenotrettung handle es sich um eine völkerrechtliche Pflicht. Die Flüchtlinge hätten ein Recht auf internationalen Schutz. Zynisch seien diejenigen, wie etwa der deutsche Innenminister Thomas de Maizière, die im Zusammenhang mit der Forderung nach einem neuen Seenotrettungsprogramm für das Mittelmeer von einer Unterstützung für die Schlepper sprechen, da dies mehr Menschen zur Flucht verleiten würde. Ein solcher Zusammenhang sei nicht belegbar, so Markard: Nach dem Ende von „Mare Nostrum“ seien die versuchten illegalen Grenzübertritte im Mittelmeer eben nicht zurückgegangen. Gefragt sei nun ein Umdenken, denn Menschen dürften und könnten nicht davon abgehalten werden ihr Heimatland zu verlassen. Legal ausgestaltete Zugangsmöglichkeiten zu sicheren Räumen und solidarische Lösungen müssen laut Markard her.
Mit der Solidarität ist das so eine Sache: Sowohl Markard als auch Alfons Pieper zitieren den Ausspruch „Heiliger Sankt Florian / Verschon’ mein Haus / zünd’ andere an“, um auf die oftmals verquere Logik der europäischen Solidarität in der Flüchtlingsfrage hinzuweisen. Auf dem Blog der Republik schreibt Pieper, die häufig im Munde geführte Rede von der christlich-europäischen Wertegemeinschaft werde derzeit wieder als pure Heuchelei offenbart. Mit dem Wert der christlichen Nächstenliebe sei es jedenfalls nicht weit her, man empöre sich höchstens kurz über die Ertrunkenen im Mittelmeer und widme sich dann wieder anderen Dingen.
In Anbetracht von jüngst publik gewordenen Wortmeldungen einiger europäischer Politikerinnen und Politiker kommt Robert Misik zu dem Schluss, dass die Toten im Mittelmeer nicht nur billigend in Kauf genommen werden, sondern geradezu politisch gewollt seien. Folge man der Argumentationslogik der Gegner eines neuen Seenotrettungsprogramms, nach der die Nichtrettung von schiffsbrüchigen Flüchtlingen andere fluchtwillige Menschen in ihrem Vorhaben entmutige, komme man nicht umhin anzunehmen, dass der Tod der Bootsflüchtlinge bewusst herbeigeführt werde.
Auch Julia Schramm ist sich auf dem Merkel-Blog sicher, dass das Mittelmeer ganz gezielt zum „Massengrab“ gemacht werde, als Abschreckungsmethode, weil man den europäischen Wohlstand unter keinen Umständen teilen wolle. Dass sich Bundeskanzlerin Angela Merkel nun rhetorisch auf die Seite der Flüchtlinge stelle, sei ihrem Vermögen geschuldet, auf die sich ändernde Gemütslage der Bevölkerung zu reagieren. Der dumpfe Rassismus von Anfang der 1990er sei heute passé. Dennoch werde Merkel ihren mitfühlenden Worten wohl keine politischen Taten folgen lassen, so Schramm, das Asylrecht werde nicht geändert.
Bernhard Torsch spricht auf Der Lindwurm von einem „Massenmord“, den Europa im Mittelmeer begehe, um sich noch mehr unliebsame Flüchtlinge vom Leibe zu halten. Europa und der Westen seien zudem für viele der Fluchtgründe in Afrika, im Nahen und im Mittleren Osten (mit-)verantwortlich. Konflikte seien dort geschürt worden, man habe sich immer wieder eingemischt. Sicherlich sei es etwa moralisch vertretbar gewesen, den libyschen Machthaber Muammar al-Gaddafi zu stürzen. Warum habe man sich dann aber aus Libyen zurückgezogen, anstatt auf ein state-building hinzuwirken? Die explodierende Gewalt dort oder auch in Syrien gehe auch auf das Konto Europas und des Westens. Die Flüchtlinge, die seit geraumer Zeit nach Europa streben, habe man selbst “produziert”.
Auf Libyen kommt auch James Bloodworth auf Left Foot Forward zu sprechen, wenn es darum geht, wie man den Tod weiterer Bootsflüchtlinge verhindern kann. Natürlich müsse man wieder ein Seenotrettungsprogramm für das Mittelmeer initiieren. Doch genauso müsse man in Libyen, dem Ausgangspunkt und Herkunftsland vieler Bootsflüchtlinge, dafür sorgen, dass die Verhältnisse dort endlich friedvoll und nachvollziehbar geregelt werden, die grenzenlose Gewalt ein Ende findet und der “Islamische Staat” und andere Terrorgruppen, die dort ihr Unwesen treiben, entwaffnet werden.
Und wie reagiert die europäische Politik? Die 28 Außen- und Innenminister der EU haben als Reaktion auf die dramatischen Vorkommnisse der letzten Tage einen 10-Punkte-Plan vorgelegt. Neben einer Stärkung und – auch geographischen – Ausweitung der „Triton“-Mission, einer besseren Verknüpfung bereits bestehender EU-Instrumente und der Sammlung von Fingerabrücken der Flüchtlinge, sollen insbesondere die Schlepperbanden ins Visier genommen und deren Boote zerstört werden. Zudem soll die Abschiebung illegaler Einwanderer beschleunigt werden.
Alexander Dilger findet es angesichts der jüngsten Vorkommnisse nur recht und billig, die Hilfsmaßnahmen im Mittelmeer wieder hochzufahren. Die Menschen müssten vor dem Tod bewahrt werden. Doch weitergehend fände es Dilger am sinnvollsten, wenn illegale Flüchtlinge zwar gerettet, dann aber zügig in ihr Heimatland oder – falls das nicht möglich sein sollte – in ein sicheres Drittland abgeschoben würden. Wenn man dies eine Zeit lang konsequent durchzöge, ließe sich die Zahl derjenigen, die trotz der großen Gefahr die Seereise nach Europa anträten, merklich reduzieren – und damit auch die Zahl der Toten.
Dass die EU verschärft gegen die Schlepperbanden vorgehen will, findet Philip Plickert in einem Gastbeitrag auf Tichy’s Einblick ganz richtig. Dem Treiben der Schlepper, die Millionenbeträge mit ihrem illegalen und kriminellen Geschäft verdienten, müsse man ein Ende bereiten. Dies schaffe man nicht durch Rettungsprogramme, wie sie derzeit betrieben werden – diese trieben den Schleppern nur immer neue Flüchtlinge in die Arme –, sondern durch die Errichtung von „Auffang- und Asylantragszentren“ in Nordafrika, die die lebensgefährliche Mittelmeerüberfahrt überflüssig machen könnten. Plickert ist es wichtig zu betonen, dass es nicht die EU sei, die morde, sondern die skrupellosen Schlepper.
Sehr konträre Sichtweisen, zu einem äußerst drängenden gesamteuropäischen Problem. Die Debatte über den Umgang mit Flüchtlingen und die Durchlässigkeit der europäischen Außengrenzen muss nun möglichst breit geführt werden. Schlimm, dass es dafür anscheinend immer wieder so dramatisch zugespitzter Ereignisse, wie in der letzten Woche bedarf.