Die Türkei nach den Wahlen. Der Anfang vom Ende Erdogans?
Die türkischen Wählerinnen und Wähler haben ihrem Präsidenten Recep Tayyip Erdogan einen merklichen Strich durch die Rechnung gemacht. Zwar wurde die konservative, moderat-islamische AKP, also die Partei, die Erdogan mitbegründet hat und der er lange vorstand, abermals stärkste Kraft im türkischen Parlament (40,8%), doch erstmals seit vielen Jahren benötigt sie einen Koalitionspartner, um regieren zu können. Das kam für viele Beobachter überraschend. Erdogan, der selbst gar nicht zur Wahl stand, sich aber immer wieder überaus aktiv in den Wahlkampf eingemischt hatte, galt als mehr oder weniger unangreifbar und eilte bisher von einem Wahlerfolg zum nächsten. Entscheidend für die Beendigung der weiteren AKP-Alleinregierung war der Einzug der kurdischen Partei HDP ins Parlament. Die Partei konnte sich durch eine Entwicklung und Öffnung hin zu einer linken Sammlungsbewegung neue Wählerschichten erschließen und so auch mit 13,1% die hohe 10%-Hürde überspringen, die bei türkischen Parlamentswahlen angesetzt ist.
Das Wahlergebnis war aber auch ganz wesentlich ein Votum gegen die Bestrebungen Erdogans, das politische System der Türkei hin zu einem auf ihn zugeschnittenen Präsidialsystem umzubauen. Um diese Änderungen in die Wege leiten zu können, hätte die AKP eine deutliche, verfassungsändernde Mehrheit im Parlament benötigt, die ihr die türkischen Wählerinnen und Wähler aber verwehrten. Juan Cole bezeichnet den türkischen Wahlausgang auf informed Comment folglich auch als einen herben Rückschlag für Erdogan. Nicht nur Erdogans autoritäres Gebaren und kompromissloses Vorgehen habe vielen missfallen, auch der teilweise undurchsichtige Umgang mit dem im angrenzenden Syrien und Irak wütenden „Islamischen Staat“ (IS), das harte Durchgreifen gegen die Gezi-Park-Protestierenden und die Einschüchterungsversuche gegenüber der türkischen Zivilgesellschaft wären bei den Wählerinnen und Wählern weit mehr ins Gewicht gefallen, als Erdogan dies vermutet hätte. Erledigt sei die AKP und Erdogan damit freilich noch nicht, so Cole, vielleicht sei aber deren Niedergang eingeleitet.
Joshua Keating sieht dies auf dem Slate-Blog The Slatest ähnlich. Mit ihrem Vorhaben das politische System der Türkei nach Erdogans Gusto umzugestalten, sei die AKP gescheitert. Interessant sei nun vor allem, wie es in der Türkei weitergehe. Es fehlt der AKP nämlich an einem Koalitionspartner. Weder die sozialdemokratisch-kemalistische CHP, die lange Jahre die Türkei regiert hatte, noch die nationalistische MHP (und erst recht nicht die kurdische HDP) käme hierfür wirklich in Frage. Wenn es nach 45 Tagen noch nicht zu einer Regierungsbildung gekommen sei, müssten Neuwahlen angesetzt werden.
Auf Atatürk’s Republic stimmt man zwar der Interpretation zu, dass der Wahlausgang eine Schlappe für die AKP und Erdogan sei, dennoch gäbe es nach wie vor ein massives Problem für die politische Opposition: Weder der CHP, der MHP oder der HDP werde es gelingen können, der AKP dauerhaft genügend konservative Stimmen abzunehmen. Die AKP könne die Werte und Interessen des Großteils der türkischen Bevölkerung einfach am Besten bedienen. Und dennoch hätten viele Wählerinnen und Wähler der AKP gewisse Grenzen aufgezeigt, was zumindest hoffnungsfroh stimme. Der Weg hin zu einer liberaleren Türkei sei aber dennoch kein einfacher, Erdogan und die AKP vereinen immer noch viel Macht auf sich.
Aber wohin die Reise für die Türkei nun geht, darüber herrscht nach wie vor keine Klarheit, wie Firdevs Robinson auf openDemocracy betont. Während die HDP noch ihren Einzug ins Parlament feierte, kam es in der kurdisch dominierten Stadt Diyarbakir im Südosten der Türkei zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Eine Tat der kurdischen PKK, wie AKP-nahe Medien berichteten oder ein geschickt lancierter Versuch Unruhe unter den Kurden zu stiften? Wenn Robinson etwas in den vergangenen Jahren gelernt habe, dann, dass die Dinge in der Türkei häufig anders seien, als sie zunächst erscheinen mögen.
Frank Nordhausen freut sich auf seinem Blog Gruß vom Bosporus zunächst einmal über den Wahlausgang. Das beiße sich vielleicht mit dem journalistischen Berufsethos, doch manchmal gehe es eben einfach nicht anders. Dass sich die türkischen Wählerinnen und Wähler gegen die (drohende) Despotie Erdogans und für (mehr) Demokratie ausgesprochen hätten, sei ein Grund zur Freude. Zu sehr hätte der autoritäre Führungsstil und die Großmannssucht Erdogans auf den türkischen Verhältnissen gelastet und die Stimmung getrübt. Nun sei Erdogan freilich noch lange nicht am Ende, doch man sehe wieder einen Silberstreif am Horizont.
Erdogan hat nach der Wahl am vergangenen Sonntag verhältnismäßig lange geschwiegen. Dabei wird es sicher nicht bleiben und man darf gespannt sein, welchen Weg er einschlagen wird: Hin zu einer Koalition (mit wem?) oder Kurs auf Neuwahlen (mit ungewissem Ausgang)?