Ein Fußballfest für alle? Die WM in Brasilien
In wenigen Tagen beginnt in Brasilien die Fußball-Weltmeisterschaft der Männer. Während hierzulande noch munter darüber diskutiert wird, ob der Bundestrainer Joachim Löw die richtigen Spieler nominiert hat, ob die angeschlagenen Schlüsselspieler rechtzeitig zum Turnierbeginn wieder fit werden, oder ob es ausreicht, mit nur einem „gelernten“ Stoßstürmer zum Turnier zu fahren, herrschen in Brasilien ganz andere Sorgen und Probleme vor: Schon 2013, während des Confederations Cups, kam es in Brasilien zu teilweise gewalttätigen Protesten und sozialen Unruhen. Der Protest entzündete sich unter anderem daran, dass für Milliardensummen neue Stadien gebaut wurden – zu großen Teilen finanziert vom brasilianischen Staat –, während gleichzeitig das lokale und regionale Transportwesen sowie das Bildungs- und Gesundheitssystem, chronisch unterfinanziert und marode sind. Riesige Fußballtempel – deren Nutzen für die Zeit nach der WM und den Olympischen Spielen 2016 höchst ungewiss ist – wurden mehr oder weniger direkt in oder neben verarmten Stadtvierteln hochgezogen. Viele Bewohner wurden in der Folge von dort verdrängt.
Die Protestbewegung wuchs schnell zu einer beachtlichen Größe heran und übernahm auch andere Themen, die die brasilianische Gesellschaft aufwühlen: der Raubbau an der Natur, die rasante Zunahme von Privatisierungen oder der rücksichtslose Umgang mit den eigenen indigenen Minderheiten. Die Bilder von Indios, die während einer Demonstration in Brasília mit Pfeil und Bogen gegen Polizisten vorgingen, markieren den symbolischen Höhepunkt der jüngeren Auseinandersetzungen. Vorfreude auf die WM will bei all dem nicht so recht aufkommen. „FIFA go home“ ist an vielen Stellen an Hauswände gesprüht oder in den Sand gemalt.
Niklas Götz spricht auf CATO über Widersprüche und Paradoxien, die sich mit der Austragung eines solchen durchkommerzialisierten Großereignisses in einem Schwellenland verbinden. Götz empfindet es als hochgradig perfide, dass da gigantomanische Bauten errichten werden, wo die Menschen nebenan kaum genug zu Essen oder sauberes Trinkwasser haben. Oder dass der Regenwald im großen Maßstab abgeholzt wird, aber ein Gürteltier zum WM-Maskottchen gemacht wird, das die Ökologie und den Umweltschutz mit im Namen trägt („Fuleco“, als Zusammensetzung von futebol und ecologia). Auch den oftmals fragwürdigen Praktiken der FIFA oder der WM-Sponsoren – die sich um das Wohlergehen oder die Rechte der Menschen nur wenig kümmern, dafür aber um so mehr um ihre kommerziellen Interessen –, steht Götz äußerst kritisch gegenüber. Er kann nicht anders, als von der WM als einem Fest der Scheinheiligkeit zu sprechen.
Auch Mira Sigel widmet sich auf Die Freiheitsliebe den Kehrseiten der Fußball-WM und richtet ihr Hauptaugenmerk auf die Situation der indigenen Völker Brasiliens. Deren Zahl und Population wurde über Jahrhunderte drastisch dezimiert, manche indigene Gruppen haben zum jetzigen Zeitpunkt nur noch eine Handvoll Mitglieder. Indigene würden heute von der brasilianischen Polizei mit äußerst rabiaten Mitteln von ihrem Land vertrieben – auch in Regionen, in denen demnächst WM-Spiele stattfinden. Beschämend findet Sigel zudem, dass der WM-Sponsor Coca-Cola mit Bildern fröhlicher Indios Werbung für seine Brause macht, in der Zucker von solchen Zuckerrohrplantagen verarbeitet wird, deren Boden illegal den Indigenen entrissen wurde.
René Scheu bemüht sich auf einem Gastbeitrag auf Die Achse des Guten um eine möglichst realistische Einschätzung der gegenwärtigen sozialen Proteste in Brasilien. Es sei nicht hauptsächlich – wie oft behauptet würde – die brasilianische Unterschicht, die Armen, die Ausgegrenzten, die Bewohner der Favelas, die da auf die Straße gingen, um zu protestieren. Es sei stattdessen insbesondere die neue Mittelschicht, die das Versagen der öffentlichen Verwaltung, die Verteuerung des Personennahverkehrs oder die korrupten staatlichen Eliten kritisierte. Das Bild eines zutiefst gespaltenen Landes, das jederzeit auseinanderzubrechen drohe, sei eben viel zu vereinfachend. In Wirklichkeit wüchse da auch eine leistungsbereite und gut ausgebildete Mittelschicht heran, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen wolle und dafür auch auf die Straße gehe.
Roberto J. De Lapuente ärgert sich auf seinem Blog ad sinistram in anderer Hinsicht darüber, wie verzerrt die Brasilianer von uns wahrgenommen würden. Dass diese als ständig gutgelaunte Strahlemänner und -frauen dargestellt seien, die sich für wenig mehr als Fußball interessieren, macht De Lapuente wütend. Der Protest gegen Entrechtung und die Auflehnung gegen (verkommene) Machtstrukturen gehöre doch mindestens genauso zu Brasilien wie der Fußballenthusiasmus. Die sozialen Proteste sollten nicht als lästige Störung des anstehenden Fußballgroßereignisses herabgewürdigt oder als bloße Randnotiz abgestempelt werden. Vielmehr verdienten sie als berechtigte Kritik an den Auswüchsen des Neoliberalismus unser aller Respekt und Aufmerksamkeit.
Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff versuchte unlängst die verschiedenen Kritiker der mit der WM verbundenen Geldverschwendung zu beschwichtigen und sprach davon, dass die WM Brasilien ein „dauerhaftes Erbe“ hinterlassen werde. Ob dies nun als Verheißung oder Drohung zu verstehen ist, darüber lässt sich sicherlich diskutieren.