Geht Juncker über Bord? Und die europäische Demokratie mit ihm?

“Juncker und Freunde” von Pirapakar Kathirgamalingam.

Es hätte doch alles so einfach sein können. Je nachdem wer bei den Europawahlen die meisten Sitze im Europäischen Parlament erringt, stellt auch den nächsten Präsidenten der Europäischen Kommission. Die zur Wahl stehende Alternative lautete dann: entweder Jean-Claude Juncker, für die konservativ-christdemokratische „Europäische Volkspartei“ (EVP) oder Martin Schulz, für die „Progressive Allianz der Sozialisten und Demokraten“. So wurde dies der (deutschen) Öffentlichkeit präsentiert und so wurde es auch angeregt diskutiert. Von einem echten europäischen Novum war die Rede, denn bis dato waren es immer die europäischen Staats- und Regierungschefs, die nach der Wahl einen passenden und allseits genehmen Kandidaten unter sich ausbaldowert hatten. Die Implementierung von europäischen Spitzenkandidaten wurde vor diesem Hintergrund als eine Stärkung der europäischen Demokratie interpretiert, als eine Aufwertung der Europawahl und des europäischen Wählerwillens. Nach der Wahl hätte es dann eigentlich schnell gehen können (jedenfalls für europäische Verhältnisse): Die siegreiche EVP hätte Juncker den europäischen Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat vorgeschlagen, diese hätten die Personalie konsequenterweise durchgewinkt und dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt.

Doch so ist es nicht gekommen. Junckers Berufung wird blockiert und sogar offen in Frage gestellt – und zwar auch ganz maßgeblich von konservativer Seite. Insbesondere der britische Premier David Cameron stellte sich nachdrücklich gegen Juncker. Er hält ihn für einen Vertreter von gestern, der Europa nicht mehr repräsentiere. Cameron pocht zudem darauf, dass es auch weiterhin die europäischen Regierungschefs sein müssten, die über die Besetzung der europäischen Spitzenposten zu entscheiden hätten. Einige andere Staats- und Regierungschefs schlossen sich diesem Urteil an. Bundeskanzlerin Angela Merkel agierte in der Sache zögerlich. Erst nach einigem Abwarten unterstützte sie Junckers Ambitionen – wenn auch nicht allzu vehement. Während eines kürzlich im schwedischen Harpsund abgehaltenen „Mini-EU-Gipfels“ sah man Merkel und die Juncker-Gegner Cameron, Mark Rutte (Niederlande) und Frederik Reinfeldt (Schweden) über die Zukunft der EU beratschlagen. Das Bild einer – scheinbar harmonisch verlaufenden – gemeinsamen Ausfahrt im Ruderboot machte schnell in den Medien die Runde.
Wie ist es bei all dem um die europäische Demokratie bestellt. Steht und fällt sie mit der Nominierung Junckers zum Kommissionspräsidenten?

Dass die Infragestellung und mögliche Nichtnominierung Junckers zur Schicksalsfrage für Europas Zukunft und Demokratie hochstilisiert wird, findet Meister Petz auf Zettels Raum merkwürdig. Es gäbe ja durchaus gute Gründe die Eignung Junckers in Zweifel zu ziehen. In einigen Ländern hätte er gar nicht zur Wahl gestanden, außerdem sei Junckers Demokratieverständnis in mancherlei Hinsicht fragwürdig. An der demokratietheoretischen Überhöhung der Debatte um Juncker könne man ablesen, dass die Idee und das Verständnis eines europäischen Parlamentarismus auf tönernen Füßen stehe. Die EU gebe das einfach (noch?) nicht her. Die verschiedenen Staats- und Regierungschefs seien eben immer auch – oder zuallererst – ihren jeweiligen nationalen Wählern gegenüber verpflichtet und stellten die souveränen und partikularen Interessen ihrer Länder innerhalb Europas auch weiterhin in den Vordergrund.

Auf den NachDenkSeiten wundert sich Albrecht Müller über den von verschiedenen fortschrittlichen bzw. linken Intellektuellen unterschriebenen Appell, der die Nominierung Junckers zum obersten demokratischen Gebot für Europa erklärt. Dass es bei der Nominierung Junckers um die Wahrung guter demokratischer Gepflogenheiten gehe, findet Müller lachhaft. Gerade Juncker sei doch als langjähriger Ministerpräsident der luxemburgischen Steueroase maßgeblich mit daran beteiligt gewesen die demokratische Willensbildung in Deutschland – im Zusammenhang mit der neoliberalen Neuordnung der Medienlandschaft in den 1980ern – zu unterhöhlen. Außerdem gelte auch nicht generell, wie es in dem Appell zu lesen ist, dass die stärkste Partei im Parlament mit der Regierungsbildung betraut werden müsse. Schließlich könnte ja auch die parlamentarische Gegenseite eine tragfähige Koalition schmieden, wenn die Mehrheitsverhältnisse dies zuließen. Demokratische Willensbildung gehe eben auch anders – auch in Europa.

Eric Bonse nimmt auf Lost in EUrope an etwas Anderem Anstoß: Wer habe denn, so fragt Bonse, die kleine konservative Bootstruppe in Schweden dazu ermächtigt über die zukünftige Ausrichtung der EU zu entscheiden und sich – hinsichtlich des Zurückdrängens Junckers – über den Willen der Wähler und der EVP hinwegzusetzen? Und nicht Merkel solle nach der Europawahl zwischen den Positionen vermitteln, sondern eben Juncker oder Herman van Rompuy, der Präsident des Europäischen Rates. Das von den vier Staatschefs in Schweden propagierte neoliberale Programm für Europa sieht Bonse zudem äußerst kritisch: Es biete keine Lösung für die vielen europäischen Probleme, sondern führe die EU in eine gefährliche Sackgasse.

Hans Hütt macht sich auf dem Blog anlasslos Gedanken über die Ikonographie der medial inszenierten Bootsfahrt der vier Regierungschefs in Schweden. Die mutmaßlichen PR-Ziele, die hinter dem Bild stehen mögen, sieht er als grundlegend gescheitert an. Die Beteiligten hätten wohl vergessen, in welcher Tradition ein solches Bildnis stehe: Es gehe um Leben und Tod, ums Überleben in gefährlichen Gewässern; die auf dem Bild deutlich zu erkennenden Schutzwesten würden dies nur allzu deutlich machen.

Um im Bild zu bleiben: Die EU befindet sich nach den Europawahlen in unruhigen, äußerst aufgewühlten Gewässern. Das lange Hauen und Stechen um Juncker wird die Lage sicherlich nicht gerade beruhigen. Einige grundlegende Dinge gilt es zu klären, etwa ob die EU mehr echte demokratische Elemente braucht und wie diese dann auszugestalten und umzusetzen wären. Wenn man die Gelegenheit zur breiten Debatte darüber nun verstreichen lässt – die beginnende Fußball-WM bietet ja bestes Ablenkungspotential – könnte dies langfristig folgenschwere Konsequenzen für das europäische Gemeinschaftsprojekt haben.