Die alte Hoffnung auf Veränderung: Wahlen im Irak, in Mazedonien und Schongau
Das Recht zu wählen: In Talkshows, im Geschichtsunterricht oder im Gespräch mit Großeltern flackert manchmal ein Feuer für die Demokratie auf. Das Recht zu wählen, das müsse man wahrnehmen, das sei ein so hohes, wichtiges Recht. Jede Wahl verpflichte den Bürger geradezu, von diesem Recht Gebrauch zu machen. Viele wahlberechtigte Bürger werden in Deutschland allerdings von den Politikwissenschaftlern als „wahlmüde“ bezeichnet. Europawahlen stehen in diesem Monat an und bislang herrscht Zurückhaltung, Skepsis, Resignation – vielleicht auch Müdigkeit.
Nur selten kann eine Wahl bei uns tatsächlich noch „Leidenschaft“ wecken – ob das schlecht oder gut ist, darüber lässt sich streiten, jedenfalls verlaufen die meisten Wahlen mit routiniert erzeugter Aufmerksamkeit. Nur manchmal durchbricht eine Wahl diese Routine, wie zuletzt die Bürgermeisterwahl in der bairischen Stadt Schongau. Tobias Kalbitzer, der junge Heilerziehungspfleger mit Dreadlocks, trat gegen das Establishment an. Eine Ausnahme, die dankbar von vielen Medien zu einer „guten Geschichte“ gemacht wurde.
Wie anders die Beiträge, die von Al Iraq Al Hurr zur Parlamentswahl im Irak auf dem Blog Daily Updates from Anbar erscheinen. Am 26. April berichtete er, eine Schule, die als Wahllokal dienen sollte, hätten bewaffnete Männer nahezu vollständig zerstört. Glücklicherweise hatte es keine Opfer gegeben. Doch die Gewalt in den Städten Ramadi und Fallujah ist gegenwärtig. Gewehrfeuer dringt durch die Nacht, so schreibt Al Iraq Al Hurr. Die Sicherheitskräfte können die Gewalt nicht eindämmen. Fallujah gilt, aus amerikanischer Sicht, schon lange als problematisch. Hier wurde heftig gegen die Besatzung der US-Truppen demonstriert. In der Nähe von Fallujah lag außerdem das Militärgefängnis von Abu-Ghraib, in dem die fürchterlichen Folterungen stattfanden.
Wahlen 2014: Auf Daily Updates from Anbar werden jeden Tag die Anschläge vermerkt. Der Druck sei enorm hoch, Wahlkampf könne in manchen Städten der Provinz Anbar kaum stattfinden, weil die Kandidaten bedroht würden. Die Parlamentswahlen fanden dann am 30. April statt, zwei Häuser wurden an diesem Tag durch Anschläge zerstört: Das Haus eines irakischen Parlamentsangehörigen und das Haus eines Regierungsratsmitglieds der Provinz Anbar in Fallujah. In Fallujah und zwei weiteren Städten konnten die Wahllokale dann nicht öffnen, die Gefahr war zu groß. Welchen Gefahren setzen sich die Iraker für ihre politische Partizipation aus? Welche Hoffnungen verbinden die Menschen mit Wahlen, mit dieser politischen Partizipation?
Karla Engelhard berichtet auf einem Blog des BR von der Parlamentswahl in Mazedonien. Aus ihren Berichten spricht viel Resignation. Die Politiker versprächen viel, doch geschehe zu wenig, wie Engelhard in Interviews erfährt. Noch immer seien Bergdörfer ohne Wasserleitung und kaum erreichbar, weil die Straßen in so schlechtem Zustand seien. Was soll die Parlamentswahl verändern? Es scheint, viele Bürger erwarten nicht mehr allzu viel. Eine Aufnahme Mazedoniens in die EU ist in weiter Ferne, die Arbeitslosigkeit liegt noch immer fast bei 30 Prozent. Derweil ballt sich die Macht des Staatsapparates. Die Rolle der Medien, so Engelhard, sei mittlerweile problematisch. Immer mehr Medien geraten in direkte oder indirekte Abhängigkeit, zum Beispiel durch Werbegelder, der konservativen Regierung. Als ein Journalist die merkwürdigen Umstände eines Autounfalls aufklären will, bei dem der wichtigste Verleger unabhängiger Presseorgane in Mazedonien ums Leben kam, wird er aus fadenscheinigen Gründen verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Welche Hoffnungen weckt die Demokratie noch?
Auf dem Blog oxnzeam, auf dem die Geschichte der Bürgermeisterwahl in Schongau erzählt wird, denkt Werner Friebel ebenfalls über die Bedeutung der Medien nach. Einerseits bediente der Kandidat Tobias Kalbitzer die Klaviatur der modernen Medien äußerst geschickt. Sein Wahlwerbevideo war am professionellsten abgedreht, seine Aktivitäten in den sozialen Netzwerken am überzeugendsten. Er verlor zwar am Ende die Stichwahl, aber bis dahin erregte er sehr viel Aufmerksamkeit. Andererseits, das scheint die Kehrseite zu sein, sobald er in den großen Zeitschriften zum Thema gemacht wurde, setzte eine völlige Vereinfachung und Verdrehung der Gegebenheiten in Schongau ein: Kalbitzer, der Revoluzzer, gegen seinen Kontrahenten, einen Biedermann. Friebel dagegen verlegt die eigentliche kulturelle „Revolution“ viele Jahre nach vorne; Kalbitzer sei nicht vom Himmel gefallen, in Schongau existierte längst eine Gegenkultur zu Konservatismus, zu Volksmusik und CSU. Der Gegner in der Stichwahl war – passend – auch der SPD-Politiker Sluyterman und eben kein CSU-Kandidat, der bereits im ersten Wahlgang deutlich gescheitert war.
Veränderung sei möglich. Dieser Glaube sei lange vor Kalbitzer in Schongau bei vielen Bürgerinnen und Bürger erwacht. Kalbitzer profitierte von dieser erhofften Veränderung: eine Veränderung des Politikstils, vor allem greifbar in parteiübergreifendem Diskutieren und Handeln sowie echter Bürgernähe. Das wäre schon viel in einem „wahlmüden“ Deutschland.
In Anbar wurde der Transport der Stimmzettel nach Bagdad kritisch zur Kenntnis genommen. Das erleichtere die Stimmmanipulation. Ein Betrug, der zynisch erscheint, wenn man die äußeren Umstände bedenkt. In Fallujah wurde am 2. Mai in einigen Bezirken Artilleriefeuer eingesetzt, in der Nacht auf den 3. Mai explodierte eine Autobombe im Zentrum von Ramadi. Bestimmte Gruppierungen, wie die bewaffneten „Tribal Revolutionaries“, die für die Wahltage Ruhe angekündigt hatten, erwarten nicht viel von politischen Wahlen, die Ziele werden gegebenenfalls mit gewaltsamen Mitteln verfolgt. Die friedlichen Bürger dagegen hoffen auf die Veränderung durch die Wahlen. Eine Veränderung der politischen Machtverhältnisse werde erwartet, einige bislang kleine Parteien könnten in Zukunft wichtige Rollen spielen. Die Wahlbeteiligung von etwa 60 Prozent klingt hier nicht nach Wahlmüdigkeit, sondern eher nach Wagemut.
Es werde sich ohnehin nichts zum besseren verändern, fängt Karla Engelhard die Stimme eines Mazedoniers zur Wahl ein. Das hört sich nicht an wie Müdigkeit, sondern wie enttäuschte Liebe. Parlamentswahlen in Mazedonien, das so weit weg erscheint, im Irak, das von den Medien mittlerweile kaum mehr beachtet wird, und eine Bürgermeisterwahl in Schongau. Die Demokratie, so scheint es, ist attraktiv, solange ein Glaube an die Möglichkeit einer Veränderung da ist.