Welche Euro-Vision? Conchita Wurst und das europäische Selbstverständnis
Europa erweist sich als Kontinent der Toleranz und Liberalität.
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Europa ist dem Untergang geweiht.
Zwischen diesen beiden Extremen bewegen sich die Reaktionen auf den Sieg der österreichischen Sängerin und Dragqueen Conchita Wurst beim diesjährigen Eurovision Song Contest (ESC) im dänischen Kopenhagen. Im glitzernden Abendkleid und mit markantem Vollbart hatte Wurst – die mit bürgerlichem Namen Thomas Neuwirth heißt – für ihren Beitrag „Rise like a Phoenix“ die mit Abstand meisten Stimmen aus ganz Europa auf sich vereint. Während die einen die europaweite Zustimmung für einen Mann in Frauenkleidern und mit Bart als endgültigen Nachweis für ein weltoffenes, antidiskriminatorisches Europa interpretierten, das offen für ganz unterschiedliche Identitäts- und Lebensentwürfe sei, schlugen konservative Stimmen ganz andere Töne an: Der stellvertretende russische Ministerpräsident Dmitri Rogosin twitterte etwa spöttisch, die Anhänger der europäischen Integration könnten nun sehen, was sie letztendlich erwarte, nämlich „ein Mädchen mit Bart“. Noch weiter ging der russische Rechtspopulist Wladimir Schirinowski, der nicht nur seiner tiefen Empörung angesichts des Siegs von Wurst Ausdruck verlieh, sondern zugleich auch Europas Ende prophezeite.
Der Auftritt Wursts initiierte eine muntere und kontrovers geführte Debatte über (die Grenzen der) Toleranz und auch über ein europäisches Selbstverständnis.
Frank Lübberding interpretiert den ESC-Sieg Wursts auf Wiesaussieht als bedeutendstes kulturelles Ereignis des Jahres. Wurst habe das geschafft, was anderen Kulturprodukten – seien es nun Romane, Bilder oder Theateraufführungen – in Zeiten der Postmoderne meistens versagt bliebe: zu irritieren, Fragen aufzuwerfen, eine breite Debatte auszulösen. Dass es alleine die ästhetische Provokation des Wurst’schen Bartes vermochte, diese Reaktionen auszulösen, und dass der Auftritt dann ganz vorwiegend politisch gedeutet worden sei, stelle dem restlichen Kulturbetrieb zugleich aber kein gutes Zeugnis aus.
Geradezu angeekelt und fassungslos ließ Elisabeth Hartung die Darbietung Wursts zurück. In einem Gastbeitrag auf dem Blog Conservo kritisiert sie den Auftritt als pure Provokation. Einen Mann in Frauenkleidern könnte sie vielleicht noch tolerieren, doch die öffentliche Zurschaustellung des Barts sei des Guten eindeutig zu viel. Hartung sieht einen “Genderwahn” am Werke und moniert, dass Anstand und Moral und auch die Unterscheidung zwischen „normal“ und „unnormal“ einfach leichtfertig der Einschaltquote geopfert würden.
Der Lindwurm feiert hingegen den Sieg Wursts als ein Symbol für Toleranz, Vielfalt und Lebensfreude. Insbesondere die jungen Europäer hätten sich so eindeutig gegen Ausgrenzung, Diskriminierung und eine übermäßige Uniformität und für Individualität, Andersartigkeit und (positive) Abweichung ausgesprochen. Gewertet wird das gesamteuropäische Abstimmungsverhalten als ein bedeutsames Fanal gegen den derzeit in vielen verschiedenen Gesellschaften zu beobachtenden kulturkonservativen bzw. reaktionären Backlash, in dessen Zuge die Angst vor Andersartigkeit geschürt und übersteigert werde. Die Akzeptanz von Andersartigkeit könnte zum vereinenden kulturellen Kern einer europäischen Wertegemeinschaft werden.
Auf die allzu übertriebenen positiven Hoffnungen, die an den ESC-Sieg Wursts geknüpft wurden, antwortet Jörg Wellbrock auf dem Spiegelfechter mit einem satirischen Text. Äußerst trocken verkündet er, Homophobie würde direkt nach dem ESC-Finale wohl offiziell und europaweit für abgeschafft erklärt. Den satirischen Text von Wellbrock nimmt Ariane auf deliberationdaily zum Anlass festzustellen, dass Homophobie natürlich keine Kleinigkeit sei, die mal eben so beseitigt werden könnte. Dennoch zähle das positive Signal, das Wursts Sieg ausgesandt habe. Sehr viele Menschen seien gegen die Benachteiligung oder Ausgrenzung aufgrund der sexuellen Orientierung.
Der Auftritt und der Sieg Wursts beim ESC provozierte eine Debatte über Toleranz, Liberalität und europäische Selbstbilder und darüber, welche Werte Europas Bevölkerung teilt bzw. teilen sollte. Ob dies nun übertrieben ist oder nicht, sei dahingestellt. Dass es in Zeiten eines nur äußerst schleppend verlaufenden Europawahlkampfes, der auch um die Leerstelle einer nicht oder nur kaum vorhandenen positiven Vision Europas zu kreisen scheint, nun zumindest zu einer Debatte über ein europäisches Selbstverständnis kommt, muss dann doch als positives Zeichen gewertet werden.